Interview 1

The Auto-Interview, 1st Issue as conducted circa 1994 (?) [German Language]


"In vielen musikalischen Ecken ist der Physik-Student und Multi-Instrumentalist Rainer Straschill zu finden. Ob humoristischer Experimental-Rock, schräger New-Jazz oder Neue Musik - es gibt weniges, was er noch nicht beschmutzt hätte". Soweit eine Kurz-Charakteristik aus den Liner-Notes des legendären KNS. Dieses kurze Statement offenbart uns schon viel über Ihre Einstellung zur Musik - eine stilistische Offenheit, kombiniert mit einem durchaus "unernsten" Approach. Warum diese Haltung ?

Zuallererst möchte ich bemerken, daß der Text noch einiges mehr offenbart. Darüberhinaus ist der Text nur in einer Hinsicht gut - er ist nämlich recht kurz, meiner Meinung nach die wichtigste Eigenschaft, die ein guter Text haben sollte. Aus dem Text lesen wir zum Beispiel, daß ich Physiker bin - also kein reinrassiger Musiker. Wir lesen ferner heraus, daß ich mindestens zwei Instrumente spiele, und daß ich mit gewisser Wahrscheinlichkeit recht eingebildet bin. Was die Haltung angeht, so läßt sich die aus dem gerade Gesagten erklären: Da ich kein Profi bin, gehe ich an die Sache eben nicht mit dem notwendigen professionellen Ernst heran. Außerdem darf man nicht vergessen, daß ich auch Blechbläser bin.

Sie sehen sich also in erster Linie als Blechbläser ?

Ich sehe mich, wie Sie vorhin sehr treffend vorgelesen haben, als Multi-Instrumentalist. Meiner Meinung nach sollte man gerade als Komponist eine möglichst große Vielzahl von Instrumenten zumindest rudimentär beherrschen. Als was ich mich sehe - nun, ich habe den analytischen Geist eines Pianisten, den Humor eines Blechbläser, die Bühnennatur eines Sängers und das Stage-Acting eines Schlagzeugers.

Welche Instrumente spielen Sie bühnenreif ?

Meinen Sie, welche ich mutig genug bin, vor Publikum zu spielen, oder welche ich instrumentaltechnisch gut genug beherrsche ?

Beides.

Nun, auf Bühnen habe ich bisher gespielt - lassen Sie mich nachdenken. Posaune und Baßposaune, mein Hauptinstrument, Klavier und überhaupt Keyboards, Schlagzeug, Perkussion, Pauken, Alt- und Sopransax und natürlich Gesang.

Und welche Instrumente beherrschen Sie instrumentaltechnisch gut genug ?

(denkt nach). Keine. Wenn man die Komposition nicht als Instrument rechnet.

Welche Komponisten beeindrucken Sie besonders ?

Uh, das sind viele, aber von den meisten nur einige Werke. Gabrieli hat sehr schöne Doppelchöre für Blechbläser gemacht. Bach gehört zu meinen All-Time-Favourites. Die Kunst der Fuge ist einfach unübertroffen, ebenso die h-moll-Messe. Das Wohltemperierte Klavier - teils, teils. Nummer 8 ist da zum Beispiel einmalig. Mit den sonstigen sakralen Werken kann ich nicht viel anfangen - vielleicht noch der Anfang der Johannes-Passion. Und natürlich das Orgelwerk. Die Dorische ist Overkill pur. Dann Beethoven: Die Klavierkonzerte sind allesamt erste Sahne, ebenso fast alle Klaviersonaten. Müßte ich hier ein paar Favoriten nennen, so wären das 29, 31 und ganz besonders 8. Von den Symphonien ist die "Siebte" extrem geil, dann natürlich noch die Diabelli-Variationen. Und der Fidelio - das ist eh die erste Oper, die man sich anhören kann.

Was ist mit den Mozart-Opern, insbesondere dem Don Giovanni ?

Die g-moll-Symphonie von Mozart ist recht gut, auch die A-Dur-Klaviersonate geht so, der Rest von Mozart ist Schrott - inklusive dem Don Giovanni. Ich habe mal längere Zeit versucht, rauszufinden, was denn Mozart so toll mache - und das ist wohl die Harmonik seiner Themen. Ich meine jetzt nicht so diffuse Begriffe wie "Wohlklang" oder so, sondern die Tatsache, daß aus Mozarts Melodien der harmonische Ablauf unmittelbar klar wird - eine Eigenschaft, die übrigens auch häufig den Improvisationen des Gitarristen Al DiMeola innewohnt. Das ist natürlich klanglich sehr reizvoll - man kann sehr durchsichtig setzen, ohne das etwas "fehlt". Allerdings fallen solche genialen Manöver wie z.B. bei Beethovens drittem Klavierkonzert im Kopfsatz oder bei der Kunst der Fuge einfach als unmöglich weg. Diese Art zu Komponieren war eine ganz böse Sackgasse, und wir können froh sein, daß sich schon während der Epoche Mozart Gegenpole wie Beethoven durchsetzen konnten.

Ihr Faible für Beethoven scheint sehr ausgeprägt zu sein.

Beethoven hat zu viel Zeit vertrödelt mit Streichquartetten. Von seinen Streichquartetten sind viele kompositorisch hervorragend bis genial, ich höre sie mir dennoch nie an, weil Streicher einfach greislich klingen. Ansonsten war Beethoven absolut notwendig für das, was danach kam. Schubert, Bruckner, Wagner, Schönberg um nur ein paar zu nennen.

Nach Beethoven geht die Entwicklung also Ihrer Meinung nach bei Schubert weiter ?

Das habe ich ganz und gar nicht gesagt, vor allem nicht, weil es Käse ist. Schubert hat sich als essentiell gezeigt für die Kunstgattung des Liedes mit Klavierbegleitung - etwas, was Beethoven auf keinem Auge gepeilt hat. Sachen wie der Musensohn, der Erlkönig oder auch die Winterreise gehören auch zu den Sternstunden abendländischen Musikschaffens. Ansonsten hatte Schubert wenig Bedeutung für die Fortentwicklung der Musik. Er hat allerdings einige saubere Klaviersachen hingelegt, die vielleicht gar nicht so unbedeutend waren, als sie zu einem Weggang von der abgelutschten Sonatenform führten.

Wie geht also die Entwicklung weiter ?

Langsam, langsam, ich komme dazu. In dieser Epoche gab es unheimlich viele Komponisten, die sich für eine bestimmte Art des musikalischen Schaffens besonders hervorgetan haben, ohne sonst soviel Bedeutung gehabt zu haben. Man kann von ihnen unheimlich viel lernen - wenn man weiß, was man lernen kann. Beethovens Klaviersonaten sind zum Beispiel das Standardwerk zum Thema "Angewandte Formenlehre", wie nicht zuletzt Schönberg erkannte. Mendelssohn war Meister im Instrumentieren der Holzbläser und der Streicher in begleitenden Passagen. Schubert hatte eben die Lieder. Und dann kommen wir schon zu den echten Overkills: Bruckner, Liszt, Mahler, eingeschränkt Wagner und Richard Strauß. Bruckner war der Meister schlechthin für bombastische Bläsersätze. Von ihm gehören eigentlich alle Symphonien zu meinen Favoriten, allerdings teilweise nur ausschnittsweise. Super ist z.B. das Scherzo aus der Ersten, der Anfang der Vierten, die Achte und Anfang und Schluß des ersten Satzes der Neunten, weiterhin noch das Aeternam Fac aus dem Te Deum. Liszt gehört zu den meiner Meinung nach am meisten unterschätzten Komponisten. Ich glaube nicht, daß Tschaikowsky oder Bartok ohne Liszt möglich gewesen wären. Und natürlich Mahler, der uns eigentlich zeigte, wie ein Symphonieorchester - bis auf kleine Žnderungen - bis hin zu Messiaen und Zeitgenossen klingen würde. Faszinierend an seinen - fast ohne Ausnahme genialen - Symphonien ist die Tatsache, daß Mahler offensichtlich mit der Zweiten schon einen vollständig ausgereiften Stil fertig hatte. Die Zweite ist wohl auch mein Lieblingswerk von diesem ganz grandiosen Musiker. Brahms könnte man kurz nennen - für die Entwicklung eher unwichtig, aber das Deutsche Requiem verdient uneingeschränkte Beachtung - das ist so gut, daß es schon von Bruckner sein könnte. Reger wäre noch kurz zu erwähnen, da er seit Bach zum ersten Mal neue Impulse in der Orgelkomposition brachte. Dann Wagner: Hiermit geht die Operngeschichte eigentlich los. Der Holländer ist wegen seiner Kompaktheit und Schmissigkeit eine meiner Lieblingsopern, obwohl natürlich nicht so komplex wie die späteren Sachen. Die Walküre sei hier als musikalisch ganz herausragendes Werk auch genannt - vom dramaturgischen muß man den Ring als Gesamtheit unbedingt erwähnen. Die Meistersinger sind sehr gut _und_ amüsant. Der Rest is furchtbar.

Sie bezeichnen also den Tristan als furchtbar ?

Der Tristan ist langweilig, unoriginell und musikalisch unausgewogen. Darüberhinaus ist er dramaturgisch katastrophal. Wirklich gute Opern kamen dann wieder von Richard Strauß, allerdings nur die Heavy-Duty-Sachen, insbesondere Elektra und Salome. Richard Strauß war allerdings auch was die symphonischen Dichtungen angeht allererste Sahne, und führte das Erbe Liszts weiter. Dann kamen eigentlich schon bald die Zwölftöner und ihre Gegenspieler. Von den Zwölftönern ist Berg definitv der King. Der Wozzeck ist eine der besten Opern überhaupt, auch das Violinkonzert ist hervorragend. Die Lieder sind ebenfalls nicht zu verachten. Webern sollte man noch erwähnen. Ansonsten an Zeitgenosssen sind Skriabin, Hindemith und Krenek erwähnenswert. Der Spezialist schlechthin ist allerdings Bartok. Die Klavierkonzerte, aber vor allem das Konzert für Orchester offenbaren neben einer absoluten Genialität in Satztechnik und Instrumentierung, die sich über alle stilistischen Vorbehalte hinwegsetzte, einen musikalischen Humor, der in Anbetracht dieses eher depressiven Menschen sehr verwunderlich anmutet.

Und weiter ?

Danach kamen - nunja Parker, obwohl ich ihn nicht mag. Dann Coltrane, Coltrane und Coltrane. Er ist einer der wenigen Musiker, die das richtige Maß zwischen "Free" und "Jazz" gefunden haben. Miles Davis teilweise, "In a silent way" ist zum Beispiel ganz exquisit. Herbie Hancocks "Headhunters" und "Inventions & Dimensions", Weather Reports "Heavy Weather", Chick Coreas "Light as a feather". Von den aktuellen Musikern vor allem Henry Threadgill, Bill Frisell, McCoy Tyner - der Erbe Coltranes. Dann natürlich Jimi, die Beatles, Queen, Black Sabbath, Led Zeppelin, Motörhead, Megadeth.

Aber das sind alles Musiker aus dem Bereich der U-Musik !

Mal davon abgesehen, daß es kaum etwas blöderes gibt als diese E/U-Einteilung sind viele dieser Musiker deutlich weniger "U" als zum Beispiel Rossini oder Mozart oder Vivaldi.

Ich meinte, es sind keine Komponisten der Neuen Musik dabei...

Genau, weil die meisten dieser Sachen weder Neu noch Musik sind, und ich weiß, wovon ich spreche, schließlich habe ich Neue Musik schon selber komponiert (grinst). Es gibt hier natürlich auch einige rühmliche Ausnahmen, speziell die "Pioniere": Messiaen sowie sein "Nachfolger" Xennakis, Kagel und manchmal auch Stockhausen. Der Rest ist musikalisch irrelevant.

Etwas absonderlich scheint es mir schon, daß sich für Sie die Entwicklung der Neuzeit hauptsächlich im Heavy Metal abzuspielen scheint.

Nun hören Sie mal, nur ein sehr beschränkter Musikjournalist käme auf die Idee, die Beatles oder Queen als Heavy Metal zu bezeichnen. Und dasselbe gilt für ihre Einstellung, die aktuelle Musik auf die Neue Musik zu beschränken. Das breite Feld der Popmusik enthält zwar Unmengen Schrott, aber das ist schließlich in der Neuen Musik nicht anders. Und einige wirklich innovative und beeindruckende Sachen findet man auch im Pop: Die Beatles und Queen für den Mainstream-Pop, Black Sabbath und Led Zeppeling als Pioniere des Rock, des Heavy Metal. Und Hendrix als der effektive Erfinder der E-Gitarre. Was die anderen genannten Bands angeht, so sind das eben persönliche Vorlieben.

Nachdem Sie nun Ihre Sicht der Entwicklung der Musik des Abendlandes dargelegt haben - wie haben Sie sich musikalisch entwickelt ? Gibt es da schon unterscheidbare Schaffensphasen, oder ist das alles noch "Orientierungsphase" ?

Man kann definitiv verschiedene Schaffensphasen erkennen - zumindest geht es mir so. Die erste erstreckt sich von - sagen wir 1989 bis ungefähr 1991, die ich jetzt mal "Frühphase" nennen möchte. Meine Einflüsse hier waren die späten Hancock-Sachen, Davis, McLaughlin. Die Musik verzichtet weitgehend auf harmonische Progressionen, und bedient sich stattdessen dem Zusammenwirken verschiedener rhythmischer Figuren in den sehr prominenten Baßstimmen. Aus dieser Zeit stammen Songs wie Sound Wizard, Kommt Freunde in die Runde und auch die "Wandelnden Welten".

Die "Wandelnden Welten" ?

Meine erste Komposition für die AG Neue Musik am OvMG, für die ich insgesamt 5 Werke schreiben sollte, von denen allerdings zwei schon in der Konzeptionsphase verhungerten. "Wandelnde Welten hören die Stimme des Ewigen" - so der vollständige Titel - ist ein Dreisätzer in freier Form, der insbesondere Schlaginstrumente stark in den Vordergrund stellt. Diese Phase ging dann langsam in eine sehr harmonisch-melodische Phase über. Hier entstanden Werke wie Erding, Ohne Socken - kein Bier und Pegasus. Diese Phase beinhaltete zwar immer noch meist einfachen harmonische Mittel, aber doch eine ausgeprägtere Melodik als früher. Sie dauerte nich sonderlich lange - eine Art Übergangsphase, die dann nahtlos in eine Phase überging, in der ich quasi die ersten beiden Phasen kombinierte, und die im wesentlichen noch bis heute ihre Endausläufer hat. In dieser Zeit entstanden einige meiner Meinung nach sehr gelungene Werke, unter anderem natürlich der letzte Satz aus der Klangraum-Suite, der auch unter dem Titel "Hammers Down" bekannt ist. In die Zeit dieser Phase fällt natürlich auch die Ära "No Members", die sicher nicht ganz unbedeutend für meine musikalische Entwicklung waren.

Ihre Experimental-Rock-Band ?

Genau, oder besser gesagt Progressive-Ethnic-Noise-Band, wie wir es nannten. Übrigens bis dato meine einzige Band, die über Projektstadium hinauskam.

Spielten Sie nicht auch in anderen Bands ?

Natürlich, aber das waren nicht "meine" Bands. Damit meine ich garnicht so sehr, daß ich nicht der Leader war - bei No Members war ich auf dem Papier lange nur "Gastmusiker" - sondern daß es nicht meine Musik war. Einige sind zerfallen, die anderen habe ich verlassen. "No Members" hingegen - stellen Sie sich vor, ein sehr dominanter Musiker mit tausend verrückten Ideen trifft auf drei unverdorbene, ihm musikalisch unterlegene, aber sehr motivierte Musiker aus dem Rock-Lager: Ich konnte wirklich alles machen, was mir Spaß machte. Und zusammen mit den musikalischen Ideen unseres Gitarristen Jan Bejenke führte das zu einem wahnwitzig breiten musikalischen Spektrum. Da gab es die Vorläufer der Acid-Jazz-Welle (The Sniper), Nirvana-Songs über ein Jahr vor Nirvana (Youth Entertainment), Bluesrock, Metal-Balladen, Funk und und und...Und alles natürlich mit einer gehörigen Potion Geblödel.

Was wurde aus dem Projekt ?

Nach unserem zweiten Auftritt löste sich die Band in alle Himmelsrichtungen auf - more to come ?

Und wie verlief Ihre Entwicklung nach "No Members" ?

Meine musikalischen Vorbilder machten in der Zeit kurz nach No Members einen rapiden Wechsel durch: Die ganze Begeisterung für Spätromantik, für Hindemith und für Bartok setzte erst in dieser Zeit ein und drängte meine Jazz-Begeisterung immer mehr in den Hintergrund. Ich hatte erst Schwierigkeiten, mit diesen Einflüssen fertig zu werden. Hierauf begann ich, was eigentlich nicht optimal war, meine Einflüsse nach "Sachgruppen" zu trennen: meine Neue-Musik-Werke, so das "Notenbüchlein für coole Instrumente" sind von den "ernsten" Musikern beeinflußt, die Jazz-Nummern von den Jazzern. Werke aus dieser Zeit - es gibt recht wenig - sind zum Beispiel "Euphemistic" und eben das "Notenbüchlein". Heute versuche ich zunehmends, wieder eine Fusion aller meiner musikalischen Ideen zu realisieren. Doch diese Experimente stehen noch in der Anfangsphase - insbesondere, weil es an der passenden Band mangelt.

Sie haben viel über Ihre Einflüsse gesprochen. Wie verarbeiten Sie als Künstler die Einflüsse durch Ihre Vorbilder ? Haben Sie Phasen, in denen Sie jeweils einem Vorbild nacheifern ?

Nicht mehr. Ich versuche, die Einflüsse so zu verwerten, daß ich die meiner Meinung nach relevanten Sachen "herauspicke" und dann in mein Schaffen einbaue. So ist zum Beispiel die Bach'sche Harmonik nach wie vor für mich Vorbild für alle tonal ausgelegten Kompositionen. Umgekehrt ist seine Art der Themenbildung nicht mein Fall, hier orientiere ich mich dann beispielsweise bei Bartok - oder versuche es zumindest.

Oder bei Dave Weckl, was die Drumparts angeht.

Sie spielen wahrscheinlich auf "Euphemisitic" an. Ja, das ist Weckl im wesentlichen. Alles in allem versuche ich natürlich immer noch, eigene stilbildende Elemente einfließen zu lassen. Und mein oberstes Ziel ist neben der Originalität eben die Vielseitigkeit.

Erstreckt sich diese Vielseitigkeit auch auf andere Kunstgattungen, bildende Künste beispielsweise ?

Nein, eigentlich habe ich mich der Musik ergeben...obwohl ich in letzter Zeit etwas auf dem Sektor Lyrik tätig war (zieht ein Blatt aus der Tasche). Hier, das ist zum Beispiel ein "Gedicht ohne Titel".

            Lärm,
             ohne - kein
            mit - ja, wir wollen es
        doch es zieht uns in den -
            ODER AUCH NICHT ?
        Kein Ohr ist noch so geblieben wie es war -

                als Jungfrau.

Hat schon was, oder ? Nein, das war ein Witz, ich dichte gar nicht (lacht und legt das Blatt auf den Tisch, es enthält eine Werbung für eine Fortran-Library). Ich kann ein Interesse für gewisse bildende Künstler nicht leugnen - Picasso vor allem, Max Ernst, auch August Macke gefällt mir, wenn ich in der Stimmung bin. Aber ansonsten habe ich für nicht-musikalische Kunstformen weder Verstand noch Empfinden, und mein Lieblingsmaler ist und bleibt Gustav Mahler.

Betätigen Sie sich eigentlich auch als Interpret von Werken anderer Komponisten ? Haben Sie hierbei irgendwelche Vorbilder ?

Klar doch, Sie brauchen ja nur durch meine Aufnahmen zu hören, um Werke von Ellington, Bach, Jobim zu hören - um nur einige zu nennen. Aber allgemein strebe ich dann wenn nach einer originellen und kreativen Interpretation - was ja leider außerhalb von Jazz und in gewissen Bereichen auch Pop eher verpönt ist. Die von Ihnen als "ernste" Musik betitelte Gattung leidet ja förmlich darunter, daß - ich schätze jetzt mal grob in den blauen Himmel hinein - 90% des Umsatzes mit Produktionen gemacht werden, die man im Pop-Bereich als "Coverbands" bezeichnen würde. Das Publikum hängt hier größtenteils - und ich bin da auch nicht gerade eine rühmliche Ausnahme - der Musik von Leuten nach, die schon längst gestorben sind. Und da es von diesen Leuten meistens keine Originaleinspielungen gibt, wollen Sie es dann wenigstens von den "Coverbands" möglichst originalgetreu hören. Ganz im Gegensatz zum Jazz - hier wird zwar auch viel Einspielungsarbeit mit Standards bestritten, aber meistens versucht der Interpret, hier noch kreative Eigenleistung zu erbringen. Bestes Beispiel ist hier die "Akoustik Band" von Corea. Vom Pop will ich hier mal gar nicht reden. Cover-Bands haben zwar in der Club-Szene, insbesondere in den Staaten, einen gewissen Stellenwert, aber bei den Aufnahmen tritt diese Sparte arg in den Hintergrund. Im "E"-Bereich hingegen gilt man ja heutzutage schon fast als Ketzer, wenn man Bach auf den Instrumenten spielt, nach denen sich Bach immer gesehnt hat.

Sie spielen auf die Originalklang-Ensembles an ?

Richtig, wobei diese Bezeichnung geradezu Hohn ist. Denn Karl Richter mag den Bach auf anderen Instrumenten spielen, als ihn Bachs Musiker spielten - aber es klingt garantiert immer noch "originalgetreuer" als das Gedudel der Originalklänger. Denn daß Bach so exzessiv unmusikalisch gespielt hat, wie es uns von den Göbels, Gardiners und wie sie alle heißen täglich vorexerziert wird, das kann mir niemand erzählen. Natürlich ist die Entscheidung zwischen "Werktreue" und "kreative Interpretation" nicht ganz einfach - schließlich kann man schon damit rechnen, daß Beethoven gewußt hat, warum er die Ritardandi a la Furtwängler nicht hineingeschrieben hat. Andererseits wird heute häufig vergessen, daß speziell im Barock die Improvisation und vor Allem das Hinzufügen von Auszierungen zum Handwerkszeug eines jeden Interpreten gehörte. Und unter diesem Gesichtspunkt kann man zum Beispiel Goulds "Präludium Nr. 7" aus dem Wohltemperierten durchaus rechtfertigen.

Gehören Sie zu den "werktreuen" oder zu den "kreativen" ?

Wie sich jeder einigermaßen vernuftbegabte Mensch nach dem bisherigen Verlauf des Interviews sicher denken kann zu letzteren. Interpretation von Werken anderer Komponisten gehört aber definitiv nicht zu meinen Spezialitäten. Die Werke, die ich einspiele, spiele ich meist ein, weil sie mir gefallen, und nicht weil ich meine, musikalisch was zu der Komposition sagen zu müssen.

Wer sind denn nun Ihre interpretatorischen Vorbilder ?

Uh, was das Spiel von Jazzstandards angeht, gehört sicher der vorhin erwähnte Chick Corea dazu. Gil Evan's Hendrix-Covers sind allerdings auch Overkill. Das größte Bachverständnis von den Musikern der letzten Epoche brachten sicherlich Gould und auch vielleicht Karl Richter auf. Ersterer ist außerdem für die Werke der Neuen Wiener Schule ganz Klasse. Kempff für Beethoven und Schubert, Sjatoslav Richter auch noch, dann vielleicht...(denkt nach) ja sicher, London Brass, Zubin Metha, Georg Solti.

Warum studiert der Musensohn Rainer Straschill eigentlich ausgerechnet Technische Physik ?

Weil ich kein Profi-Musiker werden wollte. Inzwischen weiß ich nicht mehr sicher, ob das richtig war. Aber ich ziehe die Physik-Sache jetzt mal durch, schließlich ist es halt doch auch verdammt interessant. Es schlagen wohl halt ach zu viele Seelen in meiner Brust, und ich habe häufig Schwierigkeiten, mich für eine zu entscheiden. Nun, man wird sehen, was aus allem wird. Vielleicht die erste Deathmetal-Band mit einem Dipl-Phys-Sänger.

Oder der erste Physiker mit Deathmetal-Band...

Genau, oder der erste Musikprofessor mit Physikdiplom und Deathmetal-Band, oder irgendetwas anderes verrücktes ? Ich möchte mich da noch garnicht festlegen, aber ich garantiere Ihnen, daß sie noch nicht alle Überraschungen Ihrer Laufbahn erlebt haben (lacht) !

Wenn Sie uns schon nichts über Ihre ferne Zukunft verraten wollen, gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Frage: Was wird man von Ihnen in nächster Zeit erwarten können ?

Zum einen hoffentlich bald das Vordiplom (grinst). Nebenher fangen langsam in meinem Hinterkopf eine oder zwei der dort köchelnden Suppen an, überzukochen. Sie könnten sich vielleicht mal auf eine relativ groß und absonderlich besetzte "Jazz"-Combo mit einem Sound irgendwo zwischen James Brown, Richard Strauß und Bela Bartok einrichten. Und so wie es aussieht, ist auch was "No Members" angeht noch nicht aller Abende Tag. Ich muß mich da - genauso wie Sie - überraschen lassen.

Vielen Dank, Herr Straschill.

(Das Interview führte der Musiker Rainer Straschill)

Platten, die man haben sollte:


  • * J.S. Bach: "Die Kunst der Fuge" Glenn Gould, Orgel CBS
  • J.S. Bach: "Hohe Messe in h-Moll" Münchner Bach-Orchester/Bach-Chor, Karl Richter Engen, Häfliger, Töpper,... Polydor
  • Ludwig van Beethoven: "Klavierkonzert Nr. 3 c-moll" Sjatoslav Richter, Berliner Philharmoniker/Kurt Sanderling DGG
  • Megadeth: "Rust in Peace" EMI
  • Ludwig van Beethoven: "Symphonie Nr. 9" Chicago Symphony Orchestra/Chorus, Fritz Reiner RCA
  • Felix Mendelssohn-Bartholdy: "Ein Sommernachtstraum" BBC Symphony Orch/Chorus, Otto Klemperer EMI
  • Richard Wagner: "Die Walküre" Hotter/Nilsson/King,..., Wiener Philharmoniker/Chor der Wiener Staatsoper, Georg Solti Decca
  • Tschaikowsky/Mendelssohn-Bartholdy: "Violinkonzerte" Jascha Heifetz, Chicago Symphony Orchestra/Fritz Reiner RCA
  • Anton Bruckner: "Symphonie Nr.1/Te Deum" Chicago Symphony Orchestra/Chorus, Daniel Barenboim DGG
  • * Gustav Mahler: "Symphonie Nr.2 - Auferstehung" IPO, Zubin Metha CSI
  • Motörhead: "Nö Sleep at All" ???
  • Alban Berg: "Wozzeck" Silia, Wächter, Wiener Philharmoniker/Christoph von Dohnanyi Decca
  • Peter Sadlo: "Classic Percussion" Peter Sadlo, Percussion Schwann/Koch
  • * Chick Corea: "Akoustik Band" Corea p, Pattitucci b, Weckl dr ???
  • The KultNET Sampler Vol.I Werke v. Winterer, Rütten-Klein, Hupfer, u.a. Moinlabs
  • Weather Report: "Heavy Weather" CBS
  • Herbie Hancock: "Headhunters" CBS
  • * Al Grey, J.J. Johnson: "Things are getting better all the time" Pablo
  • Miles Davis: "In a silent way" CBS
  • Led Zeppelin: "Houses of the Holy" Atlantic
  • John Coltrane: "A love supreme" Coltrane ts, Tyner p, Garrison b, Jones dr Blue Note
  • Aerosmith: "Get a Grip" ???
  • Ray Anderson: "What Because" Grammavision
  • * Paco DeLucia: "1967-1990" zweitausendundeins
  • Frank Zappa: "The best Band you never heard in your Life" barking pumpkin records/rykodisc

*: besonderer Geheimtip