The Auto-Interview, 2nd Issue
as conducted fall 1998 [German Language]
Mit einiger Überraschung reagierte ich auf einen gänzlich unerwarteten virtuellen Telephonanruf letzte Woche: am Apparat war der Musiker und Weirdo The master Weirdo posing as Mark Marandandoviczin allen Gassen Rainer Straschill - mit der Bitte, von mir interviewt zu werden. Das Ansinnen geschah, so versicherte er mir, wohlüberlegt: das letzte Interview, das ich vor vier Jahren mit ihm geführt hatte, habe ihm trotz unserer damaligen Divergenzen a posteriori so gut gefallen, daß er sich gar keinen anderen Interviewpartner als mich vorstellen könne.
Rainer Straschill - nicht nur erklärt er sich zu einem Interview bereit, er kommt sogar in dieser Absicht von sich aus auf mich zu. Ein Straschill, der etwas zu erzählen hat - und der es jemandem erzählen will, und zwar mir. Eine zu gute Gelegenheit, um verpaßt zu werden, wie ich beschloß.
Wir nutzten einen der letzten Tage des diesjährigen Altweibersommers in München, um uns zum Plausch in ein gemütliches Straßencafé zu begeben. Auf den ersten Blick bot Rainer Straschill führwahr wenig Überraschungen: ausgetretene Chopperstiefel, schwarze Lederhose und ebensolche Jacke, die langen, lockigen Haare in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, das Weißbierglas, um dessen Fuß seine Hand meist ruhte, wenn er sie nicht zum beredten Gestikulieren gebrauchte - genau der Straschill, dem ich schoneinmal gegenübersaß. Als unverändert erweist sich auch das Gespräch mit dem Meister: Themen von Interesse werden ad infinitum weitergesponnen, wobei er hier leicht vom Hundertsten ins Tausendste gerät, wenn er erstmal den reichen Schatz seiner Erfahrung und seines Wissens anzapft. Für langweilig erachtete Themen werden bestimmt vom Tisch gefegt. Bei genauerer Beobachtung erkennt man jedoch etwas, was fast nach "ersten Spuren des Alters" aussieht - eine selbstsichere Ruhe, die in ihrer Arroganz teilweise schon ennervierend ist: währen der Straschill von 1994 ständig sich und der Welt sein Talent beweisen wollte, ist der heutige einen Schritt weiter: er ist von seiner Größe schon überzeugt genug, daß ihm die Meinung des Rests der Welt diesbezüglich wenig tangiert. Von seinen - stets druckreif vorgetragenen und bis ins Kleinste logisch begründeten - Meinug differierende Haltungen werden zur Kenntnis genommen - ruhig, höflich und ohne Eindruck zu hinterlassen. Ebenfalls neu sind seine spontanen nachdenklichen Momente: von Zeit zu Zeit scheint er sich aus seiner Umwelt auszuklinken - manchmal mitten in einem Gespräch - und, durch sein Gegenüber hindurchblickend, für alle anderen unhörbaren Klängen zu lauschen.
Nach einer fast fünfjährigen Schaffenspause hast Du Dich letztes Jahr mit der CD "Janus" wieder zurückgemeldet - von Deinen Veröffentlichungen bisher das technisch professionellste, meiner Meinung nach auch musikalisch das reifste Werk. Meldet sich Rainer Straschill zurück - und gibt damit begründete Hoffnungen auf häufigere Veröffentlichungen - oder war "Janus" eher ein Statusbericht aus dem Dornröschenschlaf ?
"Janus" ist definitiv als Rückmeldung zu sehen - und was die "häufigeren Veröffentlichungen" angeht, so muß es hier beileibe nicht bei Hoffnungen bleiben: meine neue CD "Sauflieder Band 1: A Blessing of Beers" steht kurz vor der Veröffentlichung. Und weitere Projekte sind in Arbeit.
"Janus" erweckt auch etwas den Eindruck einer Zäsur in Deinem Schaffen - während manche Titel wie etwas gereiftere Versionen von alten Nummern wirken, hört man bei anderen musikalisches Gedankengut, das ich vorher nicht mit Dir verbunden hätte.
Man darf hier natürlich nicht vergessen, daß "Janus" tatsächlich die musikalische Entwicklung eines Musikers von fast sechs Jahren abdeckt - das Original-"Loisachtal" entstand im Dezember 1991, während "Metamorphosen - Leere Bierdosen" als letztes Werk auf "Janus" im Sommer ´97 das Licht der Welt erblickte. Und damit findet sich hier natürlich ein großes Repertoire von musikalischen Ideen. Manchen kann man förmlich bei der Entwicklung zusehen - am besten wird dies wohl am Beispiel der "Loisachtal Variations" deutlich, die fünf verschiedene Interpretationen einer musikalischen Idee zeigen, die zu verschiedenen Zeitpunkten und damit quasi auf verschiedenen musikalischen Entwicklungsstufen entstanden. Einige Titel zeigen musikalische Entwicklungslinien, die ich nicht weiter verfolgt habe - wie z.B. die "3 Phantasien" mit ihrem graphisch notierten, semiiprovisatiorischen Konzept. Wieder andere haben sich als Ganzes mit meinen musikalischen Einflüssen weiterentwickelt - wie "The Wizard", bei dem an die Stelle von krachigem Heavy-Metal ausgefeilter ProgRock mit Jazz-Einflüssen getreten ist. "Metamorphosen" kann dabei wirklich, wenn man denn die Symbolik etwas bemühen will, als die Vorderseite - die in die Zukunft blickende Seite - des Januskopfes betrachtet werden. Einige der hier vertretenen Ideen haben den Grundstein für die "Sauflieder" gelegt - tatsächlich können einige Sequenzen auf der CD auch in "Metamorphosen" gefunden werden.
Was für eine musikalische Entwicklung muß man durchmachen, um von "Best of..." nach "Janus" zu kommen ? Hast Du in dieser Zeit viele Einflüsse durch aktives Musizieren gesammelt, oder kamen Deine Einflüsse eher von außen ?
In erster Linie von außen. Und hier hat sich tatsächlich einiges getan - die Spätromantiker und die "neuen Deutschen" habe ich im letzten Interview schon erwähnt. Hinzu kamen alle möglichen Arten von originellem Jazz - sehr viel ECM wie Towner, Gismonti, Surman, und viele Europäer, so z.B. Klaus König, das Vienna Art Orchestra oder Louis Sclavis, ferner die wilden Amerikaner Zorn, Frisell, Threadgill, Laswell usw. Im "klassischen" Bereich betrat ich relativ wenig Neuland, erweiterte eher zaghaft meine Horizonte in Richtungen wie Messiaen, Rachmanninov usw. Schließlich entdeckte ich, daß auch der Bereich Rock/Pop einige interessante Musiker zu bieten hat. Frank Zappa´s Werk begeistert mich eigentlich - mit besonderer Würdigung des "Live in New York"-Albums und der 88er-Tour - von vorne bis hinten, ebenso Joe Jackson, auch wenn ich mich für sein "Heaven and Hell" nicht begeistern kann. ELP hat einige sehr feine Sachen gemacht, zumindest bis 1974, selbiges gilt für Genesis, deren "Quintett"-Zeit zweifellos die ergiebigste war, und auch für Yes, bei denen - wie bei ELP eigentlich auch - das Live-Dreieralbum die wirklich feinen Sachen zusammenfaßt. King Crimson ist auch sehr erwähnenswert - ungeachtet der Tatsache, daß ich ihr erstes Album "In the Court of the Crimson King" für ihr bestes erachte, ist es beeindruckend zu sehen, daß diese Band bisher in drei Jahrzehnten stets versucht hat, dem Terminus "progressive" gerecht zu werden; und wenn ich auch auf "Thrak" wirklich neue Ideen vermisse, so ist es doch definitv das perfekte Album, um Sex dazu zu haben. Um die Prog-Liste zu vervollständigen, sei Eno erwähnt - insbesondere seine Kollaboration mit David Byrne - "My Life in the Bush of Ghosts" - ist sehr nett. Unabhängig davon gibt es von einigen Leuten einzelne herausragende Alben - spontan fiele mir hier "What means solid, traveller ?" von David Torn und "The black Saint and the Sinner Lady" von Mingus ein, das übrigens in der sehr schön aufgemachten Impulse-Reissue-Serie wiederaufgelegt wurde. Ungebrochen ist meine Begeisterung für Bach, für Miles Davis, für guten Latin-Jazz und für Chick Corea.
Und diese doch recht umfangreiche musikalische Entwicklung hat währen der "Janus"-Jahre quasi Dein Schaffen paralysiert ?
Nunja, der Witz ist eigentlich, daß während dieser Zeit gar nicht so wenig Musik entstand - sie wurde nur teilweise nicht veröffentlicht. In meiner selbstgefälligen Abhandlung "The Janus Flipsides" ist dokumentiert, wie mit dem Abfallmaterial von "Janus" eine 75-Minuten-CD gefüllt werden könnte - und dabei ist nicht einmal das "Sauflieder"-Material (das ja bis auf einen Titel zeitgleich mit "Metamorphosen" entstanden ist) und das langgehegte Projekt eines "ordentlichen" No-Members-Releases beinhaltet. Und bei letztendlich vier Alben in fünf Jahren kann man eigentlich nicht von Paralyse sprechen (lacht) !
Während es auf "Janus" im Gegensatz zu früheren Veröffentlichungen vor Gastmusikern und sonstigen Mitarbeitern gerade so wimmelt - man zählt deren zwanzig auf dem CD-Booklet - scheinen die Bedürfnisse der Leute, die Live-Performances von Rainer Straschill hören und sehen möchten, seit längerem unbefriedigt zu bleiben: seit dem Ende von "No Members" zwei öffentliche Auftritte. Warum diese geringe Ausbeute ?
Du sprichst da offengestanden einen wunden Punkt an - in dieser Zeit stieß ich immer wieder zu diversen Bands - insgesamt drei an der Zahl - allesamt seit langem bestehende Bands, die sich aber leider kurz nach meinem Eintreten selbstzerstörten - jüngstes Beispiel war die Band "lebendig". Ich bekomme langsam richtiggehend Hemmungen, einer Band beizutreten, da das Resultat immer so fatal ist. Dazu kommt natürlich, daß meine musikalischen Vorstellungen sehr sperrig sind - und das sowohl bezüglich der Vereinbarkeit mit den Interessen anderer Leute als auch in der bandtechnischen Realisierbarkeit - man überlege sich nur mal eine hypothetische "Janus"-Band!
Gibt es - unabhängig von ihrer Realisierbarkeit - soetwas wie eine "ideale" Band für Dich ?
Eigentlich nicht. Es ist bei mir wirklich nicht mehr so, daß sich praktisch alle meine parallelen musikalischen Aktivitäten in einer einzigen Band realisieren ließen. Bevor ich mich also auf mein nächstes Bandprojekt stürze - und es ist eher unwahrscheinlich, daß dies in nächster Zukunft stattfindet - werde ich mich vorher für eine musikalische Ecke entscheiden, und dann die Band formieren. Deutlich wahrscheinlicher ist jedoch eine rein projektmäßige Zusammenarbeit mit diversen Musikern, die unter Umständen natürlich auch Live-Konzerte beinhalten könnte. In dieser Richtung gibt es einge Tuchfühlungen, und ohne ins Detail gehen zu wollen, kann ich sagen, daß ich unabhängig voneinander hier mit einigen von den alten "lebendig"-Leuten, mit Andreas Winterer und mit Jan "Scotty" Bejenke zaghafte Anbahnungen begonnen habe.
Jan "Scotty" Bejenke - deutet das auf eine neuerliche "No Members" - Revitalisierung hin ?
Nein, definitiv nicht. "No Members" ist ad acta gelegt, und alles was hier noch zu tun ist, ist die Fertigstellung der "Memorial"-CD - ein Live-Album, zusammengestellt aus den Aufnahmen von den beiden einzigen Konzerte. Scotty hat schon seit längerem die Gitarre in die Ecke gestellt, und befaßt sich nun professionell mit dem Plattenspielen. Demgemäß würde sein Beitrag der eines DJs und "sampling consultants" sein.
Tatsächlich scheint der Straschill der Jahrtausendwende wieder ein sehr aktiver und produktiver zu sein. Du hast einige "in Arbeit befindliche" Projekte angesprochen. Kann man hier mehr erfahren ?
Aktuellstes Projekt
ist das vorhin erwähnte "Sauflieder Band 1: A Blessing of Beers", das noch vor
Erscheinen dieses Interviews erschienen sein dürfte. Diese Scheibe enhtält etwas, das
ich "computer aided improvisation" nenne - Sopransaxophon, Synthesizer und
Vocalgeräusche, verquirlt mit Effektgeräten, Sequencer-Loops und Samples, und das in
realtime improvisiert. Ein Approach, der sehr im Gegensatz steht zu den sehr
"konstruierten" Werken auf Janus - aber tatsächlich findet man sogar
einige Querverweise auf Janus´ "Metamorphosen". Das Material für diese CD ist
übrigens weitgehend im August letzten Jahres entstanden, während der Janus-Endphase
also, und lag seitdem ungenutzt herum.
Damit wären wir im wesentlichen schon bei den Ideen für einige Projekte, die ganz oder
teilweise auf "ungenutzt herumliegendem Material" beruhen. Eine Kooperation mit
Andreas Winterer produzierte die Cosmo Sessions. Was mit diesem
Material geschieht ist noch unklar, klar ist nur, daß etwas damit passiert. Möglich
wäre eine eigenständige Veröffentlichung unter ebendiesem Namen, die dann nur
Cosmo-Material enthielte. Dies könnte sogar sehr bald geschehen - realistisch wäre
Anfang 1999. Oder das Material fließt in das geheimnisvolle
"Klangmärchen"-Projekt ein, das allerdings erst in der ganz frühen
Anfangsphase steht. Zieht man Zaras (Andreas Winterer, Anm. d. Interviewers) übliches
Arbeitstempo in Betracht, so würden Optimisten ein Ergebnis Ende 2001 für dieses wohl
erste Doppelalbum von mir ansetzen. Unabhängig von diesem Großprojekt, das sicher
irgendwann aber eben nicht bald ansteht, habe ich Ideen für ein Album "Pop Up - Rainer Straschill goes commercial". Der Titel ist hier
nicht zuuu ernst zu nehmen - enthalten sind einfach meine poppigsten Einfälle aus der
Zeit von 90 bis heute - und damit wird dieses Album die ersten offiziellen
Veröffentlichungen meiner Techno-Experimente "Tides of
Darkness" und "Yassir" enthalten. Mit
drauf wandert auch - man höre und staune - die erste Release-Version meines Hits
"Qui peut aider ?", und unter Umständen auch der eine oder andere Track aus den
Cosmo Sessions, wenn diese nicht anders verwendet werden - siehe oben. Dieses Album würde
wahrscheinlich noch nächstes Jahr auf der Release-Seite meiner
Website erscheinen. Das "No Members - A Memorial" werde ich in Angriff nehmen,
wenn ich die Zeit und Lust dazu finde - ich gebe mal vorsichtig "Erste Hälfte
99" als Erscheinungstermin an. Und dann gibt es natürlich noch die obskureren
Verrücktheiten: eine misteriöse "Millenium-Suite", die natürlich in
Konformität mit dem gesunden Menschenverstand am 1. Januar 2001 erscheinen wird, und die
in meinem Energy-Allocation-Plan zusammen mit "Die
Platte" um meine Gunst buhlt. Und das ehrgeizige "1974"-Projekt, das
jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach auf sehr lange Zeit vertagt ist, wenn ich nicht einen sehr
starken Schaffensflash kriege, worauf dann "1974" noch in der ersten Hälfte
´99 erschiene - dafür würde "Pop Up" auf jeden Fall und "Cosmo"
wahrscheinlich gekippt.
Alles in allem ergäbe sich so ein Output von vier Alben in den nächsten drei Jahren, was
ich recht cool fände. Nicht gefeit ist man dabei allerdings vor einigen der oben
erwähnten Bandprojekte - unter Umständen könnten selbige einen Output produzieren, der
obige Release-Policy komplett durcheinanderbringen würde.
Die Kooperation mit Andreas Winterer scheint recht intensiver Natur zu sein. Was steht denn hier alles an ? Etwa irgendeine KultNET-Revival ?
Wie bei "No Members" so auch hier: kein Revival. Unsere erneute (oder eigentlich erste richtige) Kooperation begann, als wir im Herbst letzten Jahres anfingen, unsere musikalischen Werke wechselseitig auseinanderzunehmen. Freunde von etwas ambient-orientierteren, elektronischen Sounds sollten sich übrigens mal seine "Mondsümpfe" zu Gemüte führen! Als nächstes erhielt ich die Rohfassung seines neuen Romans sowie des dazugehörigen Soundtracks mit der Bitte um die Beisteuerung musikalischer Werke meinerseits - dies ist geschehen in Form der "Cosmo Sessions", über die ich mich ja vorhin schon geäußert habe. Weitere Pläne beinhalten ein Interview, das Zara eigentlich mit mir führen wollte, wohl auch geführt hat, das aber bis heute nicht fertig geworden ist - letztlich ein Grund, warum ich jetzt hier sitze! Und dann unser "Klangmärchen"-Projekt, das so eine Art Hörspiel mit durchkomponiertem Soundtrack werden soll. Hier ist aber außer einigen vollmundigen Reden noch nichts getan worden, weder von seiner noch von meiner Seite.
Offensichtlich sind die Veränderungen in Deinem Schaffen nicht nur musikalischer Natur: früher KultNET, jetzt WWW. Früher Releases auf Kassette, jetzt CDs. Die Vierspur abgelöst von Harddisc-Recording - Innovation, wohin das Auge blickt.
Unsere Welt wird momentan in Riesentempo von Veränderungen heimgesucht, von denen fast
alle auf die eine oder andere Weise mit Computertechnik zu tun haben. Das gilt auch für
die von Dir genannten Beispiele: während früher das KultNET und die damit verbundene
DFÜ als Inbegriff des Freaktums galt, der selbst für computertechnisch versierte Freunde
von mir ein Buch mit sieben Siegeln darstellte, sind heute Haushalte ohne
Internet-Anschluß kaum mehr zu finden. Eine Entwicklung, die mich - allem
Fortschrittsglauben zum Trotz - nicht ganz glücklich macht. Denn paradoxerweise scheint
das Web, das gegenüber dem Mailbox-Zeitalter einem viel höheren Prozentsatz der Benutzer
die Möglichkeit gibt, sich in großem Maße darzustellen, die Kommunikation
einzuschränken. Früher fand sich ein Haufen Gleichgesinnter in der heimeligen Umgebung
einer Mailbox zusammen, die im Idealfall so eine großartige Atmosphäre bot wie die
Kaschemme, und die privat oder gewerblich, immer aber zum reinen Selbstzweck geführt
wurde. Die technischen Möglichkeiten waren sehr beschränkt: ANSI.-Grafiken, und
Messageboards und Fileareas als praktisch einzige Dienste. Auch blieben die Aktionen des
Benutzers meist auf eine einzelne Mailbox beschränkt - Newsgroups hier mal ausgenommen.
In dieser Umgebung waren die Benutzer zum Dialog quasi gezwungen. Heute surft sich der
User, unterstützt von Suchmaschinen und chaotischen Linkstrukturen, durch ein
unüberschaubares Gewirr von teils privaten, teils kommerziellen Angeboten. Auf den
meisten Sites - insbesondere den privaten - scheint die technische Umsetzung vor dem
Inhalt zu stehen: animierte Grafiken, Frames, lustige Sounds und kleine Aufgaben
verrichtende Java-Applets und ASPs rahmen auf niedliche Weise eine absolute Leere ein.
Zum Glück sind die anderen erwähnten Entwicklungen nicht so negativ zu sehen. Und allen
Unkenrufen zum Trotz: (und ich sage das als jemand, der nicht nur weiß, wie man einen
Plattenspieler bedient, sondern auch ein schönes Exemplar eines solchen daheim hat -
einen Thorens TD 320 mit Empire ID 600-System) ist für mich der Siegeszug des
"Digital Audio" sehr zu begrüßen - auch wenn in manchen Punkten Verbesserungen
möglich und auch nötig sind. Doch nicht zuletzt aus der Sicht der Homerecorder eröffnen
sich hier tolle Möglichkeiten: so wurde die gesamte Musik der "Cosmo Sessions"
im Rechner abgemischt, gemastert und gleich auf CD gebrannt - ein Unterfangen, das mit
klassischer, analoger Technologie nur mit einem horrenden technischen Aufwand möglich
wäre - insbesondere auf diesem Qualitätsniveau. Überhaupt verlagert sich unverkennbar
das Tonstudio der Zukunft immer mehr in den PC hinein - integrierte
Musik-Produktionsumgebungen wie Logic Audio und Cubase Audio VST, Soft Synths,
DirectSound-Effektplugins, CD-Writer. Die Technologie verlagert sich immer mehr vom
klassischen Studio-Gear in den PC, von analog nach digital, und von Hard- nach
Softwarelösungen. Das manifestiert sich dann natürlich auch bei Geräten wie
Synthesizern und Effektgeräten - hier gehört die Zukunft eindeutig den möglichst
universell konfigurierbaren DSP-Gräbern wie Kurzweils K-2500 oder Eventides DSP 4500.
Was hier erstaunlich - und natürlich auch bedauerlich ist, ist daß sich diese Möglichkeiten leider sehr wenig in der Musik manifestieren. Man denke z.B. an die Bands der späten Sechziger und frühen Siebziger, die neue Instrumente wie das Mellotron ebenso wie neuartige Effekte und natürlich die Mehrspurtechnologie sehr kreativ eingesetzt haben - als Exempel möge hier Frank Zappas "Lumpy Gravy" dienen - oder auch die Spielereien mit dem Mix von Peter Gabriels Gesang in "The Musical Box" von Genesis´ "Nursery Cryme". In den Siebzigern kamen dann die Synthesizeristen - Herbie Hancocks "Headhunters" sind hier ein sehr gutes Beispiel, hier werden die Synthesizer wirklich als neuartige Instrumente eingesetzt, nicht als elektronische Klaviere. In den Achtzigern hatten wir dann den weiteren Siegeszug der Synthesizer, wobei sich hier Digitalgeräte wie Yamahas DX-7, den ich trotz seines Alters immer noch gerne spiele, und auch Rolands D-50 etablierten. Im weiteren Verlauf kamen dann die Sampler. In den Neunzigern hingegen - naja, alles wird eben immer digitaler und computerisierter, aber ohne daß die Musik wirklich darauf reagieren würde. Stattdessen nutzen die eigentlichen Richtungen der Neunziger - Techno, DnB, House usw. vornehmlich sogenannte "Vintage Synths" - Geräte, mit denen schon ELP das Publikum bedröhnte! Zugegebenermaßen mag bei diesen Beurteilungen auch persönlicher Geschmack eine große Rolle spielen: im Rock, aber auch im Jazz hat sich wirklich seit Anfang der Siebziger nichts wirklich weltbewegendes getan - eigentlich seit der ProgRock-Ära, zu der ich mich in meinem "Age of Dinosaur"-Essay ja schon im Detail geäußert habe.
Du scheinst ja mit den musikalischen Entwicklungen der Gegenwart nicht besonders viel am Hut zu haben - Deine Wurzeln liegen offensichtlich in einer Zeit, die Du noch gar nicht erleben konntest...
Nunja, zum eindeutigen Kind der frühen Siebziger habe ich mich ja schon bekannt - doch
genaugenommen stimmt auch das nicht. Vielmehr scheinen mir alle grundlegenden
musikalischen Ausprägungen,
die sog. ernste Musik, der Jazz, Rock und Pop, gewisse Entwicklungsmuster zu durchlaufen,
die zwar nicht unbedingt zeitgleich stattfinden, und auch verschieden lang dauern können,
aber in ihrer Abfolge allen Grundrichtungen gemein sind. Schauen wir uns die ernste Musik
an: nachdem bis Anfang des siebzehnten Jahrhunderts verschiedene recht unkorrelierte,
musikalisch wenig entwicklungsfähige Richtungen vor sich hin dümpelten - Gregorianik mit
ihren doch recht beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten sei hier ein Beispiel -
entwickelte sich im Barock erstmals eine richtige, entwicklungsfähige Stilrichtung, die
sowohl für sich selbst tragfähig war, als auch viele zukunftsweisende Elemente enthielt,
und hauptsächlich von zwei Leitfiguren - Bach und Händel - getragen wurde. Dieser Epoche
folgte aus der Keimzelle eines weiterentwickelten Barocksounds - CPE Bach sei hier als
Federführer genannt - die Wiener Klassik, eine stark auf kommerzielle Tragfähigkeit
ausgelegte Musikrichtung, die allerdings im Gegensatz zum Barock wenig neue Impulse
brachte, eher was formalen und tonalen Reichtum anging einen Rückschritt darstellte. Auch
wenn für die meisten Leute der Hero der Epoche Mozart ist, so hat doch Haydn deutlich
mehr für eine weiterführende musikalische Entwicklung getan, und legte quasi den
Grundstein für den nächsten Schritt gen Romantik, der jedoch erst von Beethoven
vollzogen wurde. Die Romantik und die Spätromantik brachte mit sich eine starke
Diversifizierung der Sounds und der Entwicklungslinien, und behielt tatsächlich auch
parallel zu den nächsten Entwicklungsschritten - einfach mal in ihrer kaum
überschaubaren Gesamtheit "Moderne" genannt - ihre Gültigkeit. Die Moderne
schließlich setzte auf den unglaublichen Reichtum der Spätromantik auf, und verarbeitete
ihre Errungenschaften und kombinierte sie sowohl mit viel älteren (siehe kontrapunktische
Formen z.B. bei Schönberg und Webern), als auch mit gänzlich neuen Ideen. Wichtiger
Bestandteil ist hier auch die Annäherung an externe musikalische Einflüsse - Volksgut
und außereuropäische Musikkulturen seien hier als Beispiel genannt. Diese Epoche
stagnierte dann letztlich jedoch in eine weitgehende Bewegungs- und Einfallslosigkeit.
Versuchen wir, diese kurze Entwicklungsgeschichte zu abstrahieren, so erkennen wir im
wesentlichen ein diffuses Feld von "Vorepochen", dem eine Innovationsphase
folgt. Nach einer entwicklungsgeschichtlich gesehen eher unwesentlichen Kommerzphase kommt
dann eine Diversifizierungsphase, an die sich schließlich die Verarbeitung der Geschichte
zusammen mit fortschreitender Befreiung von altem Regelwerk und die Einbeziehung
"externer" Einflüsse anschließt, bevor man in der Stagnation landet. Angewandt
auf den Jazz wären dies also der Blues und Ragtime als "Vorepochen", die
Innovationsphase des New Orleans, Swing als Kommerzphase, Bop als Diversifizierungsphase,
an den sich dann die Moderne mit Verarbeitung (Modern Mainstream), Befreiung von Regeln
(Free Jazz) und Einbeziehung externer Einflüsse (Fusion) anschließt, bevor wir wieder in
der unverkennbaren Stagnation landen. Unsere Helden heißen diesmal nicht Bach, Händel,
Mozart, Haydn, Beethoven, Berg und Cage, sondern Oliver, Armstrong, Miller, Ellington,
Davis, Gil Evans und Coltrane. Und wiederum können wir dieses Modell auf den Rock
anwenden - das Resultat einer schon eingebrochenen Ära der Stagnation bleibt dasselbe.
Doch damit wird klar, daß ich kein Kind der Siebziger, sondern eines der
"Diversifizierungsphase" bin.
Nochmal Stichwort Technologie: Was sind es denn nun für Geräte, mit denen Rainer Straschill Musik produziert ?
Zentrum meines Studios ist natürlich in zunehmendem Maße der PC, der zu diesem Zwecke über eine Terratec EWS 64 XL sowie über einen Yamaha CDRW 4260 PRO verfügt. Außen herum gruppieren sich ein Roland MT-32, ein Kawai K-1 (mein einziges Keyboard) und ein EMU Proteus 1/XR+ Orchestral, sowie ein SE-50 von Boss und ein Digitech StudioQuad als Effekte. Von den Synthesizern nutze ich vorrangig den EMU - er klingt einfach am druckvollsten und dabei saubersten. Doch auch die anderen Geräte haben durchaus ihre Qualitäten - wie z.B. der Fretless Bass des Roland, der ständig in meiner Musik zu hören ist - oder auch meine selbstprogrammierten Orgeln auf dem K-1. Die EWS-Karte - und davor die Spea MediaFX und die TurtleBeach Tropez - kommen natürlich auch fleißig zum Einsatz - nicht zuletzt aufgrund der Sampling-Fähigkeiten. Als Pult verwende ich übrigens ein Behringer MX 2642 - klein, preiswert, guter Klang.
Deinem Selbstportrait auf Deiner Homepage entnehme ich, daß sich seit unserer letzten Begegnung noch etwas gravierendes geändert hat: der Wechsel zum Studium der Elektrotechnik. Warum dieser Schritt ?
Gute Frage - insbesondere, weil ich die Antwort selbst nicht mehr soo genau kenne, es ist schließlich schon drei Jahre her, und mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste...Man muß zuersteinmal sagen, daß Physik ein sehr interessantes, sehr abgefahrenes und sehr arbeitsintensives Studium ist - und das gilt insbesondere an einer Hochschule wie der TUM. Und irgendwann, nach vier Semestern und auf Höhe der DVP 2 stellte ich fest, daß dieses Studium ewig viel Zeit und Kraft kostete, mich damit in ein Hauptstudium von sehr seltsamen Inhalten brachte, um mich danach in einen doch eher dunklen Arbeitsmarkt zu entlassen. Das eine kam zum anderen - und dann dachte ich mir: "Hey, warum studierst Du nicht E-Technik?". Tollerweise legte man mir hier noch jegliche menschenmöglichen Steine in den Weg - faule, impertinente und unfähige Arschlöcher wie P. Awakowitsch (DVP-Schritftführer) waren hier sehr profiliert - aber letztendlich sagt mir trotz allem das Studium in jeder Hinsicht mehr zu als die Physik - trotz des viel niedrigeren Niveaus. Momentan manövriere ich mich durch mein Hauptdiplom - und in zwei Jahren dürfte alles vorbei sein.
Was macht eigentlich der selbsternannte Weirdo in allen Gassen Rainer Straschill, wenn er nicht gerade über musikalische Projekte brütet, an ihnen arbeitet, oder sich die Musik anderer Künstler zu Gemüte führt ?
Tatsächlich sind das Tätigkeiten, mit denen ich insgesamt doch viel Zeit verbringe. Ansonsten schlage ich mich ganz gern mit meinem Computer rum - und bin auf diesem Sektor auch in verschiedener Weise nebenberuflich tätig - wie man eigentlich sowieso erwartet hätte. Ebenfalls akuten Lustgewinn verspüre ich bei Tae-Kwon-Do, oder auch in geringerem Maße beim Skifahren. Ebenso wichtig ist für mich gutes Essen und guter Wein - und mein Lemma "Gutes Essen ist besser als guter Sex" gilt immer noch. Ebenfalls bin ich ab und an für eine exzessive Nacht in irgendwelchen Hangouts diverser Art zu haben, oder auch einfach für ein Besäufnis mit guten Freunden in häuslicher Atmosphäre. Und last but not least gibt es auch noch das Studium...
Über Deine musikalischen und sonstigen Vorstellungen und Umtriebe haben wir jetzt eine Menge gehört...wie kann man daraus das "Berufsbild" des Weirdos ableiten ?
Der Weirdo ist ein typisches Berufsbild der Neunziger Jahre: nachdem man in der Zeit davor durch die stark gestiegene Komplexität vieler Lebensbereiche einen Bedarf hatte nach hochspezialisierten Fachkräften, zwingen die sich schnell ändernden Rahmenbedingungen des Informationszeitalters zu einem Ausweichen auf einen anderen Archetyp: auch hochqualifiziert, aber sehr flexibel, mit geradezu gegensätzlichen Fähigkeiten. Hier schlägt der Weirdo in die Bresche: Er ist ein Typ, der an einem Abend nach einem Konzertbesuch angeregt über Bachsche Kontrapunktik diskutiert, um am nächsten Abend selbst auf der Bühne zu stehen und Freejazz zu spielen. Der ebenso begeistert durch Picasso-Ausstellungen wie in Biohazard-Konzerte rennt. Der sich ab und zu beim sinnlosen Rasen mit einem hochgezüchteten Sportwagen amüsiert, um sich bei einer kleinen Kaffeepause Gedanken über optimierte Kennfeldzündungen zu machen. Der die Grünen deshalb haßt, weil er den Unterschied zwischen einem Kernkraftwerk und einer Neutronenquelle kennt. Den man nach Belieben Papers über Dünnschichthalbleiter abfassen lassen oder im Mittelgewicht in den Ring schicken kann. Nebenbei sollte auch die soziale Intelligenz nicht zu kurz kommen: in Gesellschaft ist er sowohl in der Lage, sich das Wohlwollen der anwesenden Personen zuzueignen, als auch es durch gezielt eingesetzte Schläge unter die Gürtellinie innerhalb von Minuten wieder zu verwirken. Auch zum Thema Führungsstil gäbe es einiges zu sagen, hier nur soviel: wenn Du vor der Wahl stündest, für einen Weirdo oder eine beliebige andere Person zu arbeiten, würdest Du lieber für die andere Person arbeiten. Und die wichtigste Eigenschaft: der Weirdo ist zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation von der Vortrefflichkeit seiner Person und seiner aktuellen Handlungen überzeugt.
In diesem Sinne wünsche ich mir, daß der Weirdo hoffentlich bald als Elite-Studiengang an einigen ausgewählten Hochschulen angeboten wird. Bis dahin Dir viel Spaß bei der Perfektionierung Deiner diesbezüglichen Fertigkeiten !
Danke, den werde ich haben !